SPDqueer Mannheim

 

Bericht von der Reise ins Alzheimerpflegedorf De Hogeweyk nahe Amstersdam

Veröffentlicht in MdB und MdL

Lothar Binding
Lothar Binding

Einzeldienstreise des Abgeordneten Lothar Binding am 25.4.2012

in das Pflegedorf "De Hogeweyk" für Alzheimerpatienten in der Nähe von Amsterdam

"Der demographische Wandel ist einer der Megatrends unserer Zeit. Unsere Gesellschaft wandelt sich und wird älter. Wir werden weniger, älter und die Gesellschaft bunter.

Die Anzahl der älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung nimmt sowohl relativ als auch absolut ständig zu. Viele Menschen, die nur ein paar Jahre in Deutschland arbeiten wollten, haben Wurzeln geschlagen und verbringen auch ihren Lebens­abend jetzt in der Fremde. Dies stellt eine der ganz großen gesellschaftlichen Herausforderungen dar, nicht allein aufgrund des Älterwerdens, sondern auch aus den Unterschieden der jeweiligen Kulturen und Religionen, die gerade in zunehmendem Alter an Bedeutung gewinnen. Nur gemeinsam können Jung und Alt diese gesellschaftlichen Veränderungen meistern." So klingt es in Papieren von Parteien zur Vorbereitung ihrer Regierungsprogramme.

Dahinter verbirgt sich ein Spannungsfeld, das ich mit meiner Reise, in das Pflegedorf für Alzheimerpatienten „De Hogeweyk“ in die Nähe von Amsterdam, in den Blick nehmen will: Würde im Alter und stetig steigende Kosten des Alterns.

Konkreter Anlass des Besuchs – nicht Hintergrund und Ursache – ist der Abzug der US-amerikanischen Truppen aus vielen Städten Deutschlands und deren Konzentration in Europa ebenso wie die Standortveränderungen bei der Bundeswehr. Im Zuge der Verlegung des Hauptquartiers der US Army Europe aus Heidelberg z.B. nach Wiesbaden werden weitläufige, unbebaute und bebaute Areale in einer Dimension von 170 Hektar frei. In den laufenden Beratungen auf kommunaler Ebene über die Anschlussnutzung dieser Konversionsflächen werden derzeit verschiedene Konzepte diskutiert. Ich habe – um aus bundespolitischer Sicht ein Beispiel zu kreieren – einen Vorschlag zur Nutzung bestimmter Teilflächen in kommunaler, interkommunaler bzw. regionaler Nutzung als Standort für eine Wohn-, Betreuungs- und Pflegeeinricht­ung für demenzkranke Menschen gemacht. Die einzig mir bekannte schon länger betriebene Einrichtung dieser speziellen Art in Europa ist das Pflegedorf „De Hogeweyk“.

Um das Konzept aus praktischer Sicht besser zu verstehen und um die Kosten für Umwidmung, Aufbau und Betrieb eines solchen Pflegedorfs abschätzen zu können und damit zu einer realistischen Grundlage für die Gespräche des „Entwicklungsbeirats US-Liegenschaften“ mit der Bundesanstalt für Immobilien­aufgaben (BImA), in deren Besitz die Konversionsflächen übergangen sind, über eine wirtschaftliche Verwertung der Flächen zu kommen, habe ich eine Einzeldienstreise in die Niederlande unternommen, um mich mit den Verantwortlichen des Pflegedorfs „De Hogeweyk“ vor Ort austauschen und das Alzheimerdorf  zu begehen.

Unterlagen und Beschreibung meines Besuchs:

Entwicklung des Modellprojekts „De Hogeweyk

1993 wurde in einem bereits bestehenden Wohnheim in den Niederlanden über eine Veränderung der Wohnform für Demenzkranke nachgedacht. 2002 fiel der Entschluss, das Heim zu einem „Dorf“ inmitten der Stadt mit Wohngruppen in kleinen Häusern mit Dorfcharakter umzugestalten. Ziel war es den in fortgeschrittenem Stadium an Demenz erkrankten Bewohnern ein weitgehend normales Leben in einem eigens für sie errichteten Dorf zu ermöglichen. Es hat eine Fläche von 15.000 m², davon sind 7.000m² reine Freifläche. „De Hogeweyk“ ist heute ein barrierefreies Dorf für 152 Bewohner, die in Reihenhäusern wohnen. Aber ihr zuhause endet nicht an der Wohnungstür. Bewegungsfreiheit für die Bewohner wird hier groß geschrieben. Zwischen Straßen, Gärten und einem Dorfplatz finden Alzheimer-Patienten unter anderem Supermärkte, ein Theater, Cafés, einen Friseur, Schönheitssalons und eine Boules-Bahn, die inmitten der Wohneinheiten integriert sind. Ein Hausarzt und eine Praxis für Physiotherapie sind ebenfalls niedergelassen.

Das Dorf bietet 23 in sich abgeschlossene Wohnungen mit jeweils 320 m² Wohnfläche für 6-7 Bewohner. Alle Wohnungen verfügen über einen separaten Eingang mit Türklingel und Briefkasten. Des Weiteren gibt es in jeder Wohnung:

  • einen Zugang vom öffentlichen Bereich
  • ein Wohnzimmer
  • eine Küche mit Essbereich
  • Einzelzimmer für jeden Bewohner mit Waschbecken
  • zwei große Badezimmer
  • ein separates WC
  • zwei Hauswirtschafts- und Lagerräume

Für Demenzkranke ist es sehr wichtig ein wieder erkennbares Leben zu führen, deshalb leben die Bewohner in einem gewöhnlichen Haus, zusammen mit Menschen mit dem gleichen Lebensstil und in einer ganz normalen Umgebung, die zum jeweiligen Bewohner passt. Die Lebensstile wurden von einem Meinungsforschungsinstitut anhand der niederländischen Gesellschaft analysiert. Hogewey bietet deshalb den städtischen, gehobenen, handwerklichen, häuslichen, kulturellen und christlichen Lebensstil an. Selbst ein indonesischer Lebensstil wurde entwickelt, da viele Niederländer in der ehemaligen Kolonie Indonesien lebten.

Lebensstile beinhalten Werte, Lebenshaltung und Gewohnheiten. Der Lebensstil ergibt sich aus Vorlieben und Verhalten in den Lebensbereichen:

  • Arbeit
  • Familie
  • Wohnen
  • Konsum
  • Freizeit

Der jeweilige Lebensstil bestimmt über Ausstattung und Mobiliar in den Wohn­gruppen, welche Musik gehört wird und was gekocht wird.

Für Demenzkranke sind Lebensqualität, die Möglichkeit auszugehen und andere Menschen zu treffen, sowie eine auf normales Wohnen und Gesundheit ausgerichtete Pflege sehr wichtig. Die Betreuung in jeder Wohngruppe erfolgt durch ausgebildete Pflegekräfte im Bezugspflegeteam.

Das Konzept

Das Leben im Dorf soll so normal wie möglich ablaufen. Die Bewohner gehen einkaufen oder zum Friseur. Sie treffen sich in der Kneipe oder im Park und besuchen Theater oder Restaurants. Daneben gibt es viele weitere Angebote, wie z.B. Musizier- und Spielnachmittage, Mal- und Zeichenstunden und den Besuch von Kunstausstelllungen.

Da Demenzkranke im Regelfall nicht in der Lage sind, sich selbständig in die Gesellschaft zu integrieren, soll die Gesellschaft in „De Hogeweyk“ integriert werden. Es ist eine Form der externen Inklusion. Menschen kommen herein, nicht Kranke gehen hinaus. Die Bewohner leben nicht abgeschottet im Dorf sondern haben direkten Kontakt zu den Menschen in Ihrem Umfeld. Das geschieht durch: den Einsatz vieler ehrenamtlicher Helfer, für Bürgerinnen und Bürger aus Weesp zugängliche Veranstaltungen, wie Konzerte, Tage der offenen Tür und „De Hogeweyk“ als Ausstellungsort für Kunst zur Verfügung stellen. Auch die bauliche Umgebung trägt zum Bild einer ganz normalen Wohnsiedlung bei und erinnert nicht an ein Pflegeheim.

Pflege und Betreuung

Die Pflegeausbildung in den Niederlanden ist anders organisiert als in Deutschland. Bei der Pflegeausbildung gibt es fünf unterschiedliche Niveaustufen von 1 bis 5, keine fachspezifischen Ausbildungen wie in Deutschland im Hinblick auf Altenpflege, Krankenpflege, Heilerziehungspflege. Die Wochenarbeitszeit für Pflegekräfte beträgt 36 Stunden auf vier Wochentage verteilt. Es gibt klassische Tages-Schichten: Tag – Abend – Nacht. Für die Betreuung der 152 Bewohner stehen 180 Vollzeitstellen mit 220 Mitarbeitern zu Verfügung. Der Pool der Mitarbeiter setzt sich wie folgt zusammen:

  • ausgebildete Bezugskräfte je Wohngruppe für das „normale Leben“ in der Wohnung und für die Betreuung im Dorf und außerhalb. Unterstützung erhalten die Pflegekräfte durch geschulte Ehrenamtliche.
  • Krankenpflege erfolgt ambulant durch eigene ausgebildete Pflegekräfte
  • alle weiteren pflegerischen oder medizinischen Dienstleistungen erfolgen im Heim bei Bedarf durch Fachkräfte,
  • im professionellen Betreuungs- und Pflegebereich wird nur ausgebildetes Personal eingesetzt.
  • 130 geschulte Ehrenamtliche unterstützen die Pflegekräfte

Ich war sehr beeindruckt, dass die Bewohner weitaus weniger Medikamente benötigen, seltener bettlägerig sind und Verhaltensauffälligkeiten seltener auftreten, weil die besonderen Bedingungen im Dorf und die entsprechende vertraute Umgebung sehr unterstützend wirkt. Insgesamt ist die Pflege von dem Grundgedanken geleitet, den Bewohnern größtmögliche Freiheit zu ermöglichen.

Während meines Besuchs, wurde ich auch in die „Vereinsarbeit“ eingeladen. Von der sportlichen Betätigung, dem sportlichen Anti-Aging-Training, auch Sitztanz etc. bis zum Bridge und zum Basteln war dort viel zusehen. Es gibt viele aktivierenden Aktivitäten in der Gruppe.

Ab 22:30 Uhr beginnt die vorwiegend akustische „Beobachtung“, und es werden technische Hilfen (z.B. Monitore und Sensormatten) eingesetzt. Vier Personen sind jedoch anwesend, um für die 152 Bewohnerinnen und Bewohner zu sorgen. Kennzeichen einer Institution sind nicht sichtbar, die gesamte Organisation findet hinter den Kulissen statt.

Kosten und Finanzierung

Der Pflegesatz pro Tag beträgt 180 Euro, also bei über 5.000 Euro pro Monat. Die Pflege von Demenzkranken wird in den Niederlanden als nicht versicherbare Pflege eingestuft und über das Allgemeine Gesetz außergewöhnliche Krankheitskosten (AWBZ) finanziert. Das ist eine in den Niederlanden vorgeschriebene kollektive Krankenversicherung für nicht individuell versicherbare Krankheitsrisiken. Der Platz in „De Hogewyk“ wird voll von der Sozialversicherung übernommen. Die Bewohner müssen nur die Zusatzleistungen wie z.B. Clubmitgliedschaften bezahlen

Dass es hier nicht um eine einfache Übertragung dieses holländischen Modells auf deutsche Verhältnisse gehen kann, zeigt schon der aktuelle Bericht zur Pflegeversicherung aus 2009: dort werden die Durchschnittstagessätze in deutschen Pflegeheimen in der maximalen Pflegestufe mit 2.866 Euro angegeben.

Fazit

„De Hogewyk“ ist eine vollstationäre Pflegeeinrichtung, die ihren Bewohnern ein beschütztes Leben in Erinnerung an eine ihnen bekannte und vertraute  Umgebung bietet. Es wird dabei sehr genau auf Menschenwürde, das Recht auf Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben der Bewohner geachtet.

Ich halte das Konzept, gerade im Hinblick auf die gebotene Lebensqualität der Bewohner, für sehr nachahmenswert. Im Dialog mit Gesundheits- und Pflegeexperten, mit den Zuständigen Arbeitsgruppen und Ausschüssen im Bundestag, gilt nun zu klären, ob solche real existierenden Modelle auch für Deutschland übertragen werden können. Gerade in Regionen mit hinreichend vielen Bewohnern sind zentral gelegene Wohnanlagen für Demenzpatienten, die für die Angehörigen leicht erreichbar sind, eine gute Idee.

Die Metropolregion Rhein-Neckar, mit über zwei Millionen Einwohnern, ist sicher ein guter Standort um ein Pflegedorf für Alzheimerpatienten zu gründen. Und mit dem ehemaligen Gelände der US-Armee in Heidelberg gibt es eine zentral – insbesondere für die Angehörigen leicht erreichbar – gelegene Wohnanlage, die sich zu einem solchen Dorf entwickeln ließe. Dabei stelle ich mir das barrierefreie Dorf als eine interkommunale Aufgabe in der Kurpfalz vor. Das „Dorf“ wird von der gesamten Region entwickelt, von Ludwigshafen, Mannheim, Heidelberg, den Landkreisen, gestützt auf die Expertise der medizinischen Einrichtungen in unserer Region.

Interessant ist, dass zwischenzeitlich der Stadtrat von Alzey (Rheinland-Pfalz) Ende Juni 2012 entschieden hat auf einer Fläche von 12.000 m² ein Alzheimer Dorf zu errichten. Das zeigt, dass ähnliche Konzepte auch in Deutschland sehr positiv aufgenommen werden und eine Chance zur Umsetzung haben.

Meine Stellungnahme basiert auf meinem persönlichen Besuch in „De Hogeweyk“ und auf folgenden Quellen:

  • Stellungnahme des AK Gerontopsychatrie Heidelberg
  • Stellungnahme der Breuerstiftung
  • Informationsmaterialien, die von der Einrichtung zur Verfügung gestellt wurden.

Die für mich wichtigste Erkenntnis der Reise ist die Antwort auf die Frage, wie hier für Hochbetagte und ältere Menschen Inklusion durch die baulichen, strukturellen und organisatorischen Voraussetzungen besser ermöglicht wird, als ich sie in vielen Einrichtungen kennen gelernt habe. Ich wiederhole noch mal den konzeptionellen Ansatz, den ich nach meinem Besuch für die Praxis bestätigen kann:  Es ist eine Form der externen Inklusion. Menschen kommen herein, nicht Kranke gehen hinaus. Die Bewohner leben nicht abgeschottet im Dorf sondern haben direkten Kontakt zu den Menschen in Ihrem Umfeld.

 
 

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